INHALT

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MARKUS DRAPER „INGE ZU FUSS ZUR ARBEIT“

3. Oktober 2015 – 31. Januar 2016
Kulturhistorisches Museum Görlitz – Kaisertrutz

„Inge zu Fuß zur Arbeit“ ist eine Reflexion des Künstlers Markus Draper über den Alltag in der DDR in den 1980er Jahren. Sie ist in vier eigenständigen Szenen angelegt, die der im Titel anklingende Rückbezug auf das alltägliche Leben verbindet. Mit den medialen Möglichkeiten von Malerei, Plastik und Film geht die Ausstellung der Frage nach, wie Architektur als Instrument einer gesellschaftlichen Formatierung wirken kann und wie generationsübergreifende Verwerfungen, die in den 1980er Jahren angesichts divergierender Lebensentwürfe aufbrachen, zum Treibstoff für Veränderungen wurden. Drapers Vater gehörte als damaliger Stadtarchitekt von Görlitz zur Schicht des Bildungsbürgertums der ehemaligen DDR. Dessen Versuch, sich mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu arrangieren, sowie die daraus erwachsenen Konflikte dienen Draper als Ankerpunkt für einen vierteiligen Ausstellungsparcours. Den künstlerischen Arbeiten liegen dabei meist aufwändige Recherche-Arbeiten zu Grunde.


SZENE 1: BACKENBRECHER

Die Besucher betreten die Ausstellung durch einen abgedunkelten Raum, in dem drei großformatige Videoprojektionen mit offenem Ton zu sehen sind. Sie zeigen das Mahlwerk eines Backenbrechers – eines Geräts der Recycling-Industrie, das zur Zerkleinerung und Sortierung von Bauschutt dient. Drohender bzw. vollzogener Abriss historischer Bausubstanz war im Elternhaus von Markus Draper in den 1980er Jahren immer wieder ein Diskussionsthema.

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Videostills aus: „BACKENBRECHER“, 2015, 3-Kanal Projektion mit Ton


SZENE 2: DER CHRONIST

Im Mittelpunkt des zweiten Teils stehen die in Malerei übersetzten, protokollartigen Tagebücher des Vaters von Markus Draper. Er schrieb eine Chronik seines eigenen Lebens vom 1. Januar 1980 bis zum 31. Dezember 1989. Als Grundraster für jeden Tag diente die Zeile einer A3-Tabelle, die in verschiedene Rubriken unterteilt war. Die Tagebücher waren der Versuch des Architekten, sein Leben zu reflektieren, das in den 1980er Jahren von Konflikten und dem Zerrinnen von Idealen durchzogen war. Vor dem Hintergrund der DDR-Baupolitik gehörte es zu seinen Aufgaben, Großwohnsiedlungen aus Plattenbauten der Serie WBS 70 am Görlitzer Stadtrand zu planen. Die auf dem Prinzip des Rasters basierenden Typenbauten wurden während der 1980er Jahre in der gesamten DDR errichtet und waren ein zentrales Instrument der sozialistischen Gesellschaftspolitik, die auf eine Vereinheitlichung und weitgehende Aufhebung der gesellschaftlichen Schichtung abzielte. Eigentlich hatte Drapers Vater als Stadtplaner und ehrenamtlicher Denkmalspfleger ganz andere Ideale verfolgt und musste weitgehend hilflos den Verfall der historischen Bausubstanz in der Altstadt und den Gründerzeitquartieren von Görlitz erleben.

Umgesetzt als zehnteiliger Gemäldezyklus werden die tabellenartigen Tagebücher zu abstrahierenden Kompositionen. Bestehen bleibt das Raster der Spalten und Zeilen, während die Eintragungen nicht lesbar sind.

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aus der Serie: „DER CHRONIST“: „81/7“, 2015, Öl auf Leinwand, 52 x 74 cm


SZENE 3: GRAUZONE

Mit Hilfe des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) tauchten zwischen 1980 und 1990 insgesamt elf Aussteiger der Roten-Armee-Fraktion (RAF) in der DDR unter. Sie wurden mit neuen Identitäten ausgestattet und in Plattenbauquartieren von Schwedt, Cottbus, Senftenberg und Berlin untergebracht. Rückblickend äußerte ein mit ihrer Überwachung beauftragter MfS-Mitarbeiter darüber: „Mit Sicherheit ist es uns gelungen, diese Aussteiger von ihrem vorhergehenden politischen Gedankengut völlig abzubringen. […] Ich denke schon, wenn die Wende nicht gekommen wäre, dass sie irgendwann völlig in der Masse untergetaucht wären und absolut keine Unterschiede mehr erkennbar gewesen wären“ (nach: „Fluchtpunkt DDR“ Dokumentarfilm von Angi Welz-Rommel und Hanna Blösser, Hessischer Rundfunk 1997).

Der DDR-Wohnungsbau der 1980er Jahre wurde geleitet von der Imagination einer vereinheitlichten Gesellschaft. Anders als in bundesrepublikanischen Großwohnsiedlungen war ein Leben in DDR-Plattenbausiedlungen nicht mit sozialem Abstieg und der Option einer weitgehend unauffälligen, in der Anonymität aufgehenden Existenz verbunden. Vielmehr fanden sich die Aussteiger im kleinbürgerlichen Umfeld „sozialistischer Hausgemeinschaften“ wieder, überwacht vom MfS.

Draper verarbeitet diesen in der Architektur des DDR-Plattenbaus liegenden Kreuzungspunkt deutsch-deutscher Geschichte bildkünstlerisch in Form von Modellen jener Häuser, in denen ehemalige RAF-Terroristen bei ihrer Enttarnung 1990 gewohnt hatten. Sie sind in Metall gegossen und als Skulpturen auf Betonsockeln präsentiert. Begleitend entstanden inszenierte Modellfotos als  Reproduktionen von Presseabbildungen der jeweiligen Häuser aus dem Jahr 1990.

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aus der Serie „GRAUZONE“: „BERLIN MARZAHN, ROSENBECKER STRASSE“, 2015


SZENE 4: DRAMA KIT (DER TURM)

Im vierten Teil des Parcours wird der Blick auf die gegenwärtige Verarbeitung der ehemaligen DDR gelenkt. Im Roman „Der Turm“ von Uwe Tellkamp wird das DDR-Kulturbürgertum mit seinen Nöten im Realsozialismus der achtziger Jahre beschrieben. Für die 2012 entstandene Verfilmung des Buches wurden zum großen Teil Straßenzüge und Innenräume in Görlitz als Hintergrundfolie bzw. „Bühne“ benutzt. Für die Ausstellung übersetzt Draper Setfotografien von den Filmarbeiten in Görlitz in großformatige Gemälde. Sie thematisieren den heutigen populären Blick auf die DDR, um eine Nachschärfung von und gleichzeitig Distanzierung zu den zuvor erläuterten Themen zu erreichen.

Der psychischen Situation der Protagonisten wird in „Der Turm“ viel Raum gegeben. Der in der DDR praktizierende Psychotherapeut Hans Joachim Maaz veröffentlichte kurz nach der Wende das kontrovers diskutierte Buch „Der Gefühlsstau“, in dem er versuchte, ein Psychogramm des DDR-Bürgers zu beschreiben. In den Augen Drapers ist die analytische Aufarbeitung der erlebten „formatierten Gesellschaft“ grundlegend und ein bis heute andauernder Prozess. Den malerisch verarbeiteten Setfotos werden Auszüge aus dem Buch „Der Gefühlsstau“ gegenübergestellt.

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„ZIMMERECKE“, 2015, Öl auf Leinwand, 60 x 90 cm


MARKUS DRAPER geboren 1969 und aufgewachsen in Görlitz, studierte 1991–2000 an der Hochschule für Bildende Künste Dresden, am Central Saint Martins College, London und an der Columbia University, New York. Er war Meisterschüler bei Professor Ralf Kerbach. Draper erhielt den Marion-Ermer-Preis (2001) und den Vattenfall Kunstpreis Energie (2006) sowie Stipendien des DAAD (1996), der Philip Morris Kunstförderung (1999), der Pollock-Krasner Foundation (2009) und der Stiftung Kunstfonds (2013).
Er lebt und arbeitet in Berlin.
Mehr Informationen zum Künstler auf www.markusdraper.de


alle Fotos: Hans Georg Gaul, Berlin
Courtesy the artist und Kulturhistorisches Museum Görlitz